der moment der wahrheit

„an deiner stelle würde ich es mir noch einmal überlegen“, meinte simon, der neben mir stand. kalter wind zerwuselte seine haare, während er einen vorsichtigen blick in das tal unter uns warf.
„ich habe alles genau berechnet“, sagte ich nur und atmete einige male tief durch. die klare bergluft tat gut, sie beruhigte ein wenig meine aufgekratzten nerven. simon zog derweil die stirn kraus, vermutlich um mir zu zeigen, was er von meinen rechenkünsten hielt.
ich ignorierte meinen freund und versuchte stattdessen, meine arme, an denen schwere flügel aus holz mit eisernen manschetten befestigt waren, auszubreiten.
„die stützen, schnell“, keuchte ich, als ich es nach einigen versuchen geschafft hatte, meine arme so weit anzuheben, dass sie einigermaßen waagerecht zum boden standen. simon hakte schnell die beiden stangen ein, die die flügel mit einem metallenen gürtel verbanden, so dass das irrsinnige gewicht der flügel nun nicht mehr allein von meinen armen getragen werden musste. dafür drückte jetzt der metallgürtel auf meine hüften, die sofort anfingen, sich über den enormen druck, der nun auf ihnen lastete, zu beschweren, indem sie anfingen, tierisch zu schmerzen.
„also ich weiß nicht“, sagte simon, der ein besorgtes gesicht machte. „deine holzflügel sehen zwar ziemlich imposant aus“, fand er, „aber ich kann mir beim besten willen nicht vorstellen, dass sie dich sicher nach unten tragen werden. eher werden sie dir noch die arme rausreißen.“
ich tat so, als hätte ich seine lächerlichen bedenken nicht gehört, und sagte nur: „gleich wirst du mit deinen eigenen augen sehen, wie ich mit meinen selbsgeschnitzten flügeln aus deutschem eichenholz vogelsgleich in das tal hinab gleiten werde, wo…“
„wo der krankenwagen schon auf dich wartet“, sagte simon leise.
„was… was soll das heißen?“, fragte ich überrascht. „was für ein krankenwagen?“
„nun ja.“ simon versuchte, so unschuldig wie möglich zu gucken und sah dabei aus, wie ein maulwurf mit chronischen darmbeschwerden. „ich dachte mir, falls du doch abstürzen solltest, was wir natürlich beide nicht hoffen, wäre es sicher nicht verkehrt, einen arzt in der nähe zu haben.“
„ich werde nicht abstürzen“, sagte ich trotzig. „ich werde fliegen, über flüsse und täler, felder, wälder und seen, und vielleicht sogar über das weite meer, bis hin nach panama, wenn der wind günstig steht.“
simon schaute mich an, als hätte ich soeben meinen verstand über den vorsprung geworfen.
„wie dem auch sei“, grummelte ich, „wenn du mir vielleicht noch kurz die schutzbrille überstreifen könntest?“
simon zog mir ohne ein weiteres wort zu sagen die schutzbrille über den kopf.
„das passt, danke“, sagte ich und begann, langsam aber zielstrebig in richtung felsvorsprung zu schwanken, bis meine fußspitzen schließlich die kante des vorsprungs berührten.
„der moment der wahrheit“, sagte ich feierlich, „er ist da.“
„hurra“, meinte simon leise.
ich konzentrierte mich, ohne auf ihn zu achten, atmete ein letztes mal tief durch und verlagerte schließlich mein körpergewicht nach vorne, so dass ich langsam über den vorsprung kippte. dann flog ich – fast wie ein adler – durch die lüfte. allerdings nur kurz, denn nach nur wenigen metern erwischte mich eine ziemlich heftige windbö an der seite. anstatt mir auftrieb zu geben und mich über flüsse und täler, felder, wälder und seen, und vielleicht sogar über das weite meer fliegen zu lassen, schmetterte mich die bö nur achtlos gegen den felsen, als ob ich ihr irgendwas getan hätte.
als ich mich anschließend dem boden näherte, muss ich wohl eher einem stein mit holzflügeln geglichen haben als einem vogel. ich prallte einige male ungeschickt gegen die felswand, wodurch arme und flügel schließlich brachen, überschlug mich mehrmals, verlor dabei die orientierung und wusste erst wieder, wo ich war, als ich auf dem wagendach des krankenwagens aufschlug.
das holz, dachte ich, während lustige schatten vor meinen augen eigenartige tänze aufführten. das holz, ich hätte besser albanisches knorkenholz nehmen sollen, das ist wesentlich leichter als deutsches eichenholz.
als der arzt es endlich geschafft hatte, auf das wagendach zu klettern, war ich schon längst nicht mehr bei bewusstsein.

Über christian s.

das, was ich hier hinein schreibe, wird dann später für alle sichtbar sein.
Dieser Beitrag wurde unter heiliger bimbam veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

17 Kommentare zu der moment der wahrheit

  1. Darky sagt:

    ob simon wegen sterbehilfe belangt werden kann, wenn sie nicht mehr aufwachen? immerhin hat er ihnen geholfen. aber andererseits hat er auch einen krankenwagen bestellt. ich wünsche ihnen jedenfalls gute besserung.

  2. Benjamin B. sagt:

    Die Pointe… Verdammich, diese Pointe…

  3. Opa sagt:

    Also aus Ulm sind Sie nicht.

  4. zoee sagt:

    und dann war da noch der hubschrauber aus pappe …

  5. Ai Hua sagt:

    Ich weiß, wieso ich meinen Berechnungen so selten traue…

  6. Maak sagt:

    das erinnert mich an die geschichte von dem flugzeug von dem alle sagten es sei unabstürzbar und dann – beim jungfernflug – ist es gegen nen eisberg geflogen. ach, verdammt, wie hiess das denn noch gleich…?

  7. Erdge Schoss sagt:

    Am Allerbewunderwertesten aber, werter Herr Grob, ist, dass Sie
    diesen tonnenschweren Wahnsinn sehenden Auges angingen.

    Wobei mich Details schon interessieren würden, beispielsweise:
    Woher nahmen Sie diesen grenzenlosen Optimismus, oder war
    es am Ende gar der Mut der Verzweiflung?

    Herzlich
    Ihr Erdge Schoss

  8. Herr Schmidt sagt:

    Haben Sie die Bäume, die Ihnen als Rohmaterial für die Flügel dienten, selbst gefällt oder musste doch Omas Wohnzimmerschrank dran glauben?

  9. zoee sagt:

    @maak: die hindenburg!

  10. Maak sagt:

    @zoee: GENAU! die isses. die mein ich. danke.

  11. zoee sagt:

    @maak: ach, gerne doch! wenn du noch wissen möchtest, welches schiff beim anflug auf new york abgestürzt ist – einfach fragen!

  12. FrauVivaldi sagt:

    BALSAHOLZ!!! Das weiss doch jedes Kind!! BALSAHOLZ!!

  13. christian s. sagt:

    balsaholz soll leichter sein als albanisches knorkenholz? nie im leben.

    @herr schmidt – meine oma… meine oma hat gar keinen wohnzimmerschrank. sie hat noch nicht einmal ein wohnzimmer.

    @herr schoss – habe ich mir angetrunken, mut und optimismus.

    @maak – die geschichte mit dem flugzeug… jetzt wo sie es sagen.

    @ai hua – dabei habe ich sogar einen rechenschieber benutzt.

    @zoee – ist der etwa auch… abgestürzt?

    @opa – nein, bin ich nicht. und berblinger heiße ich übrigens auch nicht.

    @benjamin – wo, verdammt… wo?

    @darky – och, geht ja schon wieder besser.

  14. Meise sagt:

    Warum haben Sie sich nicht einfach zwei Adler an die Arme geschnallt? Oder noch besser: Kondore??
    Die hätten für Sie das Fliegen erledigt!

  15. christian s. sagt:

    kondore aus holz? hm, ja. hätte funktionieren können.

    (ich hatte erst „kondome“ gelesen, hihi. aber das ist ja totaler quatsch.)

  16. Meise sagt:

    Aber Herr Grob!!! Doch nicht aus Holz!!!! Himmel! – Kondome sind aus Gummi!!!
    Ääääh, wo war ich?
    Adler? Kondore? Ach so – ja… Hätte vielleicht doch nicht geklappt. Die hätten Sie zum Frühstück verspeist.
    Ich schlage meine Wellensittiche vor: an ein Geschirr geschnallt, hätten Sie sich, die Flatterschar über sich, engelsgleich in die Lüfte erhoben. Oder so…

  17. christian s. sagt:

    und wäre dann in der sonne verbrannt. ne, dann doch lieber eine bruchlandung.

Kommentare sind geschlossen.